Mikrofon-Gesang – Singen ohne Stimme?

“Ich kann, Du kann, alle kann!”, hat ein ehemaliger Opern-Sanges-Kollege aus Aserbaidschan mal bemerkt, als es um Mikrofon-Gesang ging. Abgesehen davon, dass das grammatikalisch nicht zu 100% richtig war: Die Kernaussage ist so was von daneben, wie sie nur sein kann!

Denn erstens kann auch mit Mikrofon noch lange nicht jeder singen, wie ich in diesem Artikel schon festgestellt habe. Und zweitens kann nicht jeder schön und leise singen, was ich beim Unterschied zwischen Opern- und Popgesang dargelegt habe. Obwohl es eigentlich jeder können sollte, der sich Sänger nennt.

Die herab setzende Aussage des Kollegen entstammte also einzig und allein der eingeschränkten Perspektive des Urteilenden. Eingeschränkt dahingehend, dass der betreffende “fanatisiert” war, nur solche Töne als Gesang empfinden zu können, die unter maximaler Ausnutzung aller Resonanz-Räume in genau der Art und Weise erfolgten, die er für richtig erachtete, weil er es so gelernt hatte!

Ich kann, Du kann, alle kann?

In der Tat: Wenn man nur die Stimme betrachtet! Die meisten Menschen können sprechen und auch beim Versuch zu Singen ähnliche Laute hervor bringen: “Alle kann”! Aber müssen diese Laute deswegen schon Gesang sein? Nein! Nicht “alle kann”!

Es gibt natürlich viel weniger Leute, die mit Opernstimme singen können als es Leute gibt, die irgendein Liedchen ins Mikro säuseln können. Aber hat dieser “quantitative” rein statistische Aspekt irgendeine Bewandtnis im Hinblick auf das sängerische Können des Einzelnen? Nein!

Es gibt einen wahren Synchronsprecher-Hype: Stimm-Fans diskutieren in Foren über ihre Lieblings-Synchronsprecher und schauen fanatisch alle Filme an, die von diesen Sprechern synchronisiert wurden. Sprechen diese Sänger mit “Hochleistungs-Stimme”, wie ein Opernsänger singt? Nutzen sie alle Resonanzräume optimal aus? Meistens nicht! Meistens sind diese Stimmen nicht mal “gesund”!

Synchronsprecher sprechen meistens eher so, wie ein Popsänger mit Mikrofon singt. Es geht um Ausdruck und sprachliche Ästhetik. Beim Gesang kommen Intonation und Rhythmus hinzu. Musik eben!

Fokus Musik, Ausdruck, Sprache und Phrasierung

Wenn mit der Erzeugung der Stimme kein besonderer Aufwand getrieben werden muss, kann man sich viel besser auf die eigentlichen Aspekte des Singens konzentrieren, nämlich Musik, Ausdruck, Sprache und Phrasierung!

Und wie Tony Robbins schon bemerkte: “Energy flows where focus goes”! Je besser man sich also auf eine Sache fokussieren kann, weil man einer anderen nicht so viel Beachtung schenken muss, desto mehr Energie erhält diese “Sache”!

Mikrofongesang ist Medizin für die Stimme

Ich gehe sogar soweit zu behaupten, dass Mikrofongesang meine Stimme gerettet hat!

2001 habe ich mir aufgrund mangelnder Kenntnis über das Wesen des Singens einen wunderschönen Stimmband-Polypen hin gebrüllt! Ich hatte in dieser Zeit einen Lehrer, mit dem ich in den Proben- und Vorstellungs-Pausen bis zum Exzess brüllte, was das Zeug hielt.

Diese Dummheit hätte mich beinahe die Stimme und damit den Beruf gekostet. In den folgenden Jahren begriff ich aufgrund dieser traumatischen Erfahrung dann aber mehr und mehr, was beim Gesang Sache ist.

Zunächst musste das Ding allerdings erst mal operativ entfernt werden. Eine Narbe auf dem Stimmband ist aber auch nicht das gelbe vom Ei und behindert die Stimmfunktion gewaltig. Als Opernsänger war ich erst mal ein paar Monate ganz weg vom Fenster. Eine gute Gelegenheit, zum Nachdenken und zum Rück-Besinnen auf meine Wurzeln.

Back to the Roots

Irgendwann holte ich meine alten Elvis-Balladen raus, setze mich vor´s Studio-Mikro, den Kopfhörer schön laut gedreht, und begann, die Anfänge meiner Sänger-Laufbahn zu reaktivieren.

Tat das gut! Kein Stress! Endlich mal nicht laut singen wollen und müssen. Einfach nur locker und schön. Nur mit Gefühl. Nur mit Ausdruck. Nur Musik. Keine Atem-“Technik”, keine Stimm-“Technik”, keine Gesangs-“Technik”! Einfach nur singen.

Nach einer Weile packte ich neapolitanische Lieder dazu: “Core `n grato”, “Torna a sorrento” und solche Sachen! Die werden zwar traditionell von Tenören gesungen, aber das ist mir doch egal! Ich habe sie mir einfach für meine Bass-Stimme transponiert.

Diese Lieder enthalten aber bekanntermassen hohe Bravour-Töne am Ende, bei denen man so richtig “abröhren” soll. Tenöre singen meistens da meistens ein hohes Bb. Bei mir als Bass wurde daraus ein F. Und die Überraschung: Obwohl ich bis dahin Probleme mit hohen Tönen hatte, weil ich zu dick und mit zu viel Kraft sang, kamen die jetzt wie nichts! Warum? Weil der Druck weg war und ich nicht mehr glaubte lauter singen zu müssen als es nötig war!

Über den Mikrofon-Gesang habe ich also auch meinen Operngesang wieder gefunden. Nein: Überhaupt erst richtig gefunden!

Fazit

Mit Mikrofon und Kopfhörer, bzw. Lautsprecher, hörst Du Dich selbst “von außen”, während Du singst. Und Du hörst Dich in einer von Dir selbst gewählten komfortablen Lautstärke. Keiner Lautstärke, die von der Raumakustik und Deiner tatsächlichen momentanen Lautstärke beim Singen abhängt.

Damit schlägst Du 3 Fliegen mit einer Klappe: Volle Kontrolle, Lockerheit und Spaß!

Auch wenn Du Opernsänger bist oder werden willst, ist das Gold wert! Und als Jazz- , Rock- oder Popsänger sowieso.

Wie stehst Du zum Mikrofongesang? Schreib Deine Meinung als Kommentar!